V.

Wann Wineberger sich in Hamburg niederließ, ist nicht genau bekannt. Es muss aber im Lauf des Jahres 1799 gewesen sein. Trummer berichtet, dass er hier „von einer Krankheit befallen“ wurde und seither in der Stadt lebte 94. Am 7. Dezember 1799 trat er zusammen mit Koeber und anderen Künstlern im Französischen Theater auf. Über das Konzert berichtete der Hamburger Stadtkantor Christian Friedrich Gottlieb Schwencke 95 (1767-1822), Nachfolger Carl Philipp Emanuel Bachs in dieser Position und somit eine wichtige Größe im Hamburger Musikleben, in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ 96: „Demoiselle Guenêt 97  [...] sang unter andern eine Arie von einem Herrn Winneberger, der sich auch an diesem Abende mit einem selbstkomponierten Violoncellkonzerte hören ließ. Dieser Herr Winneberger ist ein sehr guter Orchester- und Konzertspieler, auch besitzt er Kompositionskenntnisse, nur scheint es ihm an Geschmack und gehöriger Ausbildung zu fehlen. Herr Köber, ein Schwager von ihm, und Schüler des mit Recht berühmten, und leider gar zu früh verstorbenen Hoboisten le Brun 98, blies ein Hoboekonzert, gleichfalls von eigener Komposition, recht gut, und beschloß eine der Cadencen, um einen Beweis von der Dauer seines Athems zu geben, mit einem merkwürdigen Triller, der einige Minuten währte.“

 Schwenckes harsche Kritik an dem Komponisten Wineberger mag wie eine Bestätigung der schon zitierten „schiefen Gesichter“ erscheinen, mit denen man seine Kompositionen zum Teil in Wallerstein aufnahm 99. Und doch dürfte sich der Musikfreund, der heute Gelegenheit hat, seiner Musik zu begegnen, eher auf die Seite Trummers stellen, der Winebergers Kunst so beurteilt 100: „Als Componist war der Geschiedene unstreitig oft sehr geschickt in der Anlage, allemal gründlich in der Ausführung, aber oft ernster und strenger, als es der herrschende Modegeschmack verträgt. Ein fleißiges Studium der Harmonie hatte ihn in den Besitz der vorzüglicheren Kunstmittel gesetzt und vervielfältigte den Reichtum seiner eigenthümlichen Ideen, den er sehr geschickt zu vertheilen wußte. – Diese Ideen sind überall natürlich, nirgend, wie man es leider jetzt so oft findet, gesucht und pretiös. Seine Arbeiten sind nicht gerade genial zu nennen, aber zum Theil sehr originell. Er war auch keinesweges bei der ersten Zeit seiner Ausbildung, die in das dritte Viertel des vorigen Jahrhunderts fällt, stehen geblieben, sondern rüstig mit der Zeit fortgeschritten. Seine Behandlung des Pianoforte war nichts weniger, als alterthümlich, aber einfach, würdevoll, zwar schimmerlos, aber die rührende Sprache des wahren Gefühls. In seinen Compositionen weht ein gefälliger, melodiöser, im Ganzen heiterer Charakter. In seinen Adagio’s ist eine ungemeine, aber darum sehr behutsam auszudrückende Zartheit hervor- stechend.“

In den Jahren um 1800 erlebte das Hamburger Musikleben eine Blütezeit. Zahlreiche bedeutende Musiker hielten sich damals, wenn auch teilweise nur vorübergehend, in der Hansestadt auf, unter ihnen der Geiger Giovanni Giornovichi 101 (1747?-1804), die beiden Rombergs 102 und Jan Ladislav Dussek 103 (1760-1812). Der nur wenig jüngere böhmische Pianist und Komponist machte auf Wineberger großen Eindruck. Man pflegte freundschaft- lichen Kontakt und tauschte sich aus. Dusseks „Behandlung des Pianoforte, sowohl im Vortrag als Composition, haben Alle, besonders später in Winebergers Methode wieder- gefunden. Mehrere Instrumental-Compositionen Winebergers stammen aus dieser Periode. In ihnen lebte die Erinnerung an dieß künstlerische Freundschaftsband spät noch fort.“104

Im Orchester des Französischen Theaters, dem er vermutlich bis zu dessen Schließung im Jahr 1814 angehörte, fand Wineberger eine Anstellung als Cellist 105. Seinen Lebensunter- halt verdiente er sich aber wohl in erster Linie als Privatmusiklehrer. „Als Lehrer übte er eine unsagliche Geduld; die Gabe des Unterrichts schien ihm ganz anzugehören. Freilich war er, in der Weise der älteren Musiker, rauh, streng, und so unerbittlich gegen Andere, wie er es gegen sich war.“ 106 Einer seiner prominentesten Schüler war Siegfried Wilhelm Dehn (1799-1858), der sich später als Musiktheoretiker ein Namen machen und es bis zum Professor und Kustos der Musikabteilung der Königlichen Bibliothek in Berlin bringen sollte 107. Dessen Vater, ein Altonaer Bankier, hatte Wineberger für seine Kinder als „Musik- meister“ engagiert. Dabei kam es dem erfahrenen Lehrer, wie Ledebur berichtet, nicht in erster Linie darauf an, „seine Schüler zu Solospielern auszubilden, sondern einzig und allein, bei gründlichem Unterrichte auf verschiedenen Instrumenten, ihnen Geschmack an gediegener Musik beizubringen. Bald waren die 3 Geschwister im Stande Trios miteinander aufzuführen, wobei die Schwester Clavier, der Bruder Violine und unser Dehn das Cello spielte.“ 108

Speziell für den Klavierunterricht schrieb Wineberger zahlreiche Übungsstücke, die auf Anregung des Pianisten und Schwencke-Schülers Johann Heinrich Clasing 109 (1779-1829), mit dem er offenbar in engem Kontakt stand, auch im Druck herauskamen: fünf Hefte „Leichte und gefällige Uebungsstücke für Anfänger des Pianoforte“, vier Hefte „Vierhändige Sonatinen als Uebungsstücke für Anfänger des Pianoforte“, drei Hefte „Leichte und gefällige Sonatinen mit Violinbegleitung für Anfänger des Pianoforte, um sie an beglei- tende Instrumente zu gewöhnen“, „Sechs neue und leichte Sonatinen für das Piano-Forte zur Benutzung für Schüler, die noch keine Octave greifen können“ u. a. m. Im Januar 1823 erschien in der Leipziger „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ folgende Besprechung 110:

„Der [...] Verfasser [...] hat viele Jahre hindurch dem Unterricht der Jugend, die mit und ohne Talent oft um der Mode willen sich in der Musik übt, Nachdenken, Zeit, Kräfte und selbst Neigung gewidmet. Seine Methode ist bewährt zu nennen. Die angezeigten Uebungsstücke sind durch sie veranlasst, geprüft und vielfach wieder geändert worden. So haben sie einen Grad der Vollständigkeit und Nutzbarkeit erreicht, welchen ein unterrichteter verständiger Lehrer bald bey Anwendung derselben im Unterricht heraus- finden wird. Sie unterscheiden sich von sehr vielen ihres Gleichen nicht bloss durch eine genaue Kenntniss des Instrumentes, mechanisch und geistig, sondern durch eine sorgfältige stufenweise Fortschreitung von den ersten Anfangsgründen herauf, durch reinen, gefälligen und verständlichen Satz, und durch Mannichfaltigkeit.“

Ansonsten sind aus den Hamburger Jahren im Wesentlichen Lieder sowie etwas Klavier- und Kammermusik erhalten geblieben. Ein Klavierquartett in f-Moll und ein „in mehreren Abschriften zirkulirendes Quartett aus D moll“, die sich beide in Trummers Besitz befanden und nach dessen Worten zu den schönsten Kompositionen Winebergers überhaupt gehörten 111, sind nicht mehr nachweisbar. Nur ausnahmsweise scheint sich Wineberger noch mit größeren Formen beschäftigt zu haben. Am 2. Januar 1802 wurde seine verschollene Cantate zur Neujahrsfeyer 1802 an das biedere Hamburg uraufgeführt 112; von der einaktigen Oper Die Alpenhütte (1814) auf einen Text von August von Kotzebue hat sich die autographe Partitur erhalten 113; von der ebenfalls verschollenen Sieges-Feyer der Wiener Bürger am Jahrestage der Leipziger Schlacht, einer der Gelegenheitskompositionen, wie sie nach dem Abzug der Franzosen en vogue waren, wissen wir nur, dass sie am 22. März 1817 im Hamburger Stadttheater aufgeführt wurde 114. Laut Trummer bewahrte Wineberger zahlreiche Manuskripte eigener Werke („die Ausbeute eines vieljährigen, unermüdlichen Fleißes“) in seiner Wohnung auf. Nach seinem Tod wurde sein Nachlass „gerichtlich versiegelt“ 115. Über dessen Verbleib ist nichts bekannt 116.

In seinen letzten Lebensjahren verschlechterte sich Winebergers Gesundheitszustand zusehends. „Anfängliche unrichtige Behandlung und die kleine Eitelkeit des Verstorbenen, zur Versteckung des Mangels ein hölzernes Bein zu tragen, welches für seinen schwächlichen Körper zu schwer war und bei jeder Bewegung eine auf die Narbe nachtheilig wirkende Erschütterung und Reibung verursachte, trug viel zur Verschlimmerung des Uebels bei. Die letzten Jahre seines öden, freudeleeren Lebens brachte er fast nur auf seinem Krankenlager oder in seiner Stube zu 117. Nur selten gelang es noch seinen Freunden, ihn zu einem Quartett, worin er Violoncell spielte, zu vermögen. Nie hat ihn aber seine alte Laune und Heiterkeit, das Erbtheil wohlorganisirter und religiöser Gemüther, ganz verlassen.“ 118 Erst wenige Monate vor seinem Tod gelang es Freunden, ihn zu überreden, einen kompetenten Arzt zu konsultieren. Am 6. Januar 1821 wurde Paul Wineberger in das Freimaurer-Krankenhaus am Dammtorwall aufgenommen 119, wo er am 8. Februar starb 120.

 

94 Trummer (wie Anm. 2), S. 367. Für Winebergers Hamburger Jahre gibt es kaum archivarische Belege.

95  Vgl. Barbara Wiermann: Art. „Schwencke, Christian (Friedrich Gottlieb)“, in: 2MGG, Personenteil, Bd. 15. Kassel 2006, Sp. 438-440.

96 Allgemeine musikalische Zeitung (AmZ) 2 (1799/1800), Sp. 412 f.

97 Sittard (wie Anm. 28), S. 160: „[…] Demoiselle Guenêt, Sängerin an der französischen Oper, deren schöne, volle und biegsame Stimme gerühmt wird […]“.

98  Ludwig August Lebrun (1752-1790); vgl. Bärbel Pelker / Robert Münster, in: 2MGG, Personenteil, Bd. 10. Kassel 2003, Sp. 1399 f.

99 Wie Anm. 88.

100 Trummer (wie Anm. 2), S. 370 f.

101 Vgl. Vjera Kataliniæ, in: 2MGG, Personenteil, Bd. 7. Kassel 2002, Sp. 995-998; Sittard (wie Anm. 28), S. 118, 171.

102 Vgl. Anm. 70 und 73; vgl. auch Sittard (wie Anm. 28), S. 84, 118, 139 f.

103 Sittard (wie Anm. 28), S. 182: „Alsdann ging er […] nach London, wo er sich dermaßen in Schulden stürzte, daß er 1800 heimlich nach Hamburg entfloh. Hier lernte er eine hochgestellte Dame kennen, mit der er zwei Jahre lang in einem intimen Verhältnis auf einem Gute in der Nähe lebte.“ Zu seiner Biographie vgl. im Übrigen: Anselm Gerhard, in: 2MGG, Personenteil, Bd. 5. Kassel 2001, Sp. 1712-1716.

104 Trummer (wie Anm. 2), S. 369 f.

105 Trummer (wie Anm. 2), S. 367. Auch Gerber (wie Anm. 3) berichtet, dass Wineberger 1800 am diesem Theater engagiert war. Mit dem Ende der französischen Besatzung im Mai 1814 schloss auch das Französische Theater, das seit Dezember 1794 bestanden hatte, seine Pforten; zu seiner Geschichte vgl. Heinrich Harkensee: Beiträge zur Geschichte der Emigranten in Hamburg, I. Das französische Theater. Hamburg 1896 (Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des Johanneums in Hamburg 1896); Josef Sittard: Musik und Theater, in: Hamburg um die Jahrhundertwende 1800. Hamburg 1900, S. 82-88. Das Staats- archiv Hamburg verfügt – möglicherweise aufgrund des verheerenden Stadtbrands von 1842, bei dem sehr viele Dokumente vernichtet wurden – heute über keinerlei eigene Bestände zum Französischen Theater. Schilling (wie Anm. 3, S. 873) zufolge wechselte Wineberger nach Schließung des Französischen Theaters in das Orchester des Theaters am Gänsemarkt, dem sein ehemaliger Wallersteiner Kollege Georg Feldmayr als Geiger angehörte.

106 Trummer (wie Anm. 2), S. 371.

107 Vgl. Christoph Hust, Art. „Dehn, Siegfried Wilhelm“, in: 2MGG. Personenteil, Bd. 5. Kassel 2001, Sp. 694 f.

108 Carl von Ledebur: Tonkünstler-Lexicon Berlin’s. Berlin 1861, S. 106.

109 Vgl. Kurt Stephenson: Art. „Clasing, Johann Heinrich“, in: MGG, Bd. 15. Kassel 1973, Sp. 1504 f.; Mendel-Reißmann (wie Anm. 3, S. 378) bezeichnet ihn als Schüler Winebergers, was aber aufgrund seines Alters eher unwahrscheinlich ist.

110 AmZ 25 (1823), S. 62.

111 Trummer (wie Anm. 2), S. 370.

112  Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten,

16.12.1801; zit. nach Robert von Zahn: Musikpflege in Hamburg um 1800. Hamburg 1991, S. 76 (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, Bd. 41).

113 Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, ND VII 434.

114 Zahn (wie Anm. 112).

115 Trummer (wie Anm. 2), S. 371.

116 Entsprechende Anfragen beim Staatsarchiv Hamburg und in der Staats- und Universi- tätsbibliothek Hamburg verliefen negativ.

117 Zumindest für die letzten Lebensjahre kennen wir Winebergers Hamburger Adresse, da er 1820 im Hamburger Adressbuch (Staatsarchiv Hamburg) nachweisbar ist. Der Eintrag lautet: „Wineberger, P. Musiklehrer, Mar.[ia] Magdal.[ener] Kirchhof no 76“.

118 Trummer (wie Anm. 2), S. 370.

119  Ebd. – Das Hamburger Freimauer-Krankenhaus wurde 1795 gegründet und war das erste private Krankenhaus der Stadt.

120 Der Eintrag im Leichenregister 1816-1821 (S. 290) der Gemeinde St. Petri (Staatsarchiv Hamburg) enthält den Vermerk: „seine von ihm seit langen Jahren getrennte Frau, soll noch leben, aber unbekannt wo.“

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